Sie befriedigt Bedürfnisse behinderter Männer
Von Dominik Galliker. Aktualisiert am 19.02.2014
Eine Bernerin will die Prostitution für Männer mit einer Behinderung zugänglich machen. Damit stellt die 55-Jährige viele Normen infrage.
Isabelle Kölbl in ihrem Studio nahe Konolfingen: Vor rund fünf Jahren machte sie die Ausbildung zur Sexualbegleiterin. Mittlerweile hat sie sich von den anderen Anbieterinnen distanziert.
Bild: Andreas Blatter
Daniel* hat in seinem Schrank zwei Stapel Kleider. Einen für den Alltag. Und einen für Isabelle.
Alle sechs Wochen trifft er sie, die Frau, von der er sagt, dass sie ihn verstehe wie kaum ein Mensch auf dieser Welt. Es ist Samstag, 7 Uhr, als Daniel in der Ostschweiz in den Zug steigt und Richtung Bern fährt. Am Bahnhof in Konolfingen wird sie auf ihn warten, wird lächeln und ihn mit einem Kuss begrüssen. Wird ihn mitnehmen in ihr Studio in einem Nachbardorf. Und sie wird ihn verwöhnen, den ganzen Nachmittag lang. Wie viel er ihr für diesen Besuch zahlt, bleibt sein Geheimnis. Für weniges, sagt Daniel, gebe er sein Geld lieber aus.
Es ist noch dunkel, vor dem Fenster ziehen die Lichter der Welt vorbei. Daniel hat Musik im Ohr und driftet ab in Träume. Als Rollstuhlfahrer fährt er in der ersten Klasse, hier hat er jene Ruhe, die er braucht. Braucht, um hinüberzugleiten. Von der Alltagswelt in die Welt mit Isabelle, wo er gestreichelt wird und die weiche Haut jener Frau spürt, die ihm so gefällt. Niemand darf dieses Ritual stören, das am Freitag beginnt, wenn sich Daniel den ganzen Körper rasiert, und erst endet, wenn er in Konolfingen Isabelles Lächeln sieht.
Ein neues Webportal
Der Seminarraum im Paraplegikerzentrum Nottwil ist kühl, grau, steril. Die Lüftung des Beamers summt, auf den Tischen stehen Kaffeetassen. Vier Frauen sitzen da. Isabelle Kölbl ist elegant gekleidet. Die 55-Jährige bildet an diesem Tag vier Sexarbeiterinnen aus, die sich auf Menschen mit einer Behinderung spezialisieren wollen. Diese «Perlen», wie Kölbl die Frauen nennt, hat sie herausgefischt aus dem trüben Teich der Prostitution. Sie sollen zu den ersten Mitstreiterinnen im Projekt gehören, das Isabelle Kölbl lanciert hat. Auch Daniel ist am Workshop dabei. Er hat seit seiner Kindheit eine Bewegungsstörung und soll als langjähriger Kunde die Diskussion bereichern.
Der Beamer projiziert eine Internetseite auf die Wand, eine Brunette mit kurzem Rock ist zu sehen, daneben steht «Fabienne» geschrieben, «Cup-Size D» und «Intimrasur: glatt rasiert». In den nächsten Tagen werden die Frauen selber ein solches Profil anlegen. Auf der Seite Sexcare.ch sollen Männer mit einer Behinderung eine Sexarbeiterin finden, die mit ihrem Handicap umgehen kann, sei es eine Demenz, eine Querschnittlähmung oder eine Erektionsstörung (siehe Kasten). Sexcare.ch ist seit Dienstag online. Ein vergleichbares Angebot gibt es in der Schweiz bisher nicht.
Die Seite grenzt sich klar ab von den bereits etablierten Sexualbegleiterinnen für Handicapierte, die früher Berührerinnen genannt wurden. Isabelle Kölbl ist selber ausgebildete Sexualbegleiterin, aber nicht sehr beliebt in der Szene, wie sie selber sagt. Was die anderen Sexualbegleiterinnen machen, nennt sie «Behindertensex», genormter Sex für Menschen mit einem Handicap. Sie berühren den Körper, zu Geschlechtsverkehr komme es aber nur, wenn eine Sympathie da sei. Kölbl dagegen hat von Anfang an ganz selbstverständlich Sex angeboten. «Mein Coiffeur sagt auch nicht: Waschen ja, bei Sympathie schneide ich sogar die Haare.»
«Eine Frau, die ich glattweg heiraten würde»
In Isabelles Studio steht ein weisses Sofa, davor liegt das Fell eines Stiers. Auf dem Salontisch stehen Champagnergläser. Daniel hat den Kopf in ihren Schoss gelegt, Isabelle streicht ihm durch das Haar. Seit 6 Jahren kennen sich die beiden, seit 2500 E-Mails, wie Daniel sagt. Sie geht mit ihm in die Ferien, kennt seine Eltern.
«Isabelle ist eine Frau, die ich glattweg heiraten würde», sagt Daniel. Nur zu wenigen Menschen, fügt er an, habe er ein solches Vertrauen, niemand traue ihm mehr zu. Nach einer Zeit dränge es ihn aufs Bett, sagt Daniel. Er lege sich nackt auf den Rücken. Isabelle folge ihm, schmiege ihren Körper an ihn. Was gibt es Schöneres, fragt Daniel, als das Zusammensein mit einer nackten Frau? Andere sehen ihre Freundin täglich, für ihn sei Erotik ein hohes Gut.
Daniel will sich von seinem Handicap nicht einschränken lassen. Und er ist stolz, dass er dies schafft. Er arbeitet, bezieht keinen Rappen IV, ist unabhängig. Es gebe Frauen, die überfordert seien, wenn sie ihn treffen. In der Regel schränke ihn das Handicap aber nicht ein, versichert Daniel. Ausser im Ausgang, da sei es schwierig. Einen trainierten Körper kann er nicht bieten.
«Es braucht intensive Kommunikation»
Paraplegikerzentrum, Hotelzimmer 203. Die vier Sexarbeiterinnen sitzen im Kreis um ein Bett, darauf liegt Daniel. Isabelle Kölbl stopft die Bettdecke unter Daniels Knie. «Es ist wichtig», erklärt sie, «dass er diese Körperposition halten kann.» Daniel leidet unter einer Zerebralparese. Er sagt, er habe Betonstelzen als Beine, sein Körper steht permanent unter Spannung. Liegt Daniel flach, wird der Druck enorm – und das ist alles andere als förderlich. «Nur wenn der Mann sich entspannen kann, können wir an einem anderen Ort eine Spannung aufbauen», sagt Kölbl. Die Frauen lachen.
Die körperlichen Bedürfnisse blieben auch mit einem Handicap die gleichen, sagt Isabelle Kölbl. Sie nehme sich aber länger Zeit als eine Prostituierte, führe oft lange Gespräche. «Für mich ist Sex eine intensivere Art der Kommunikation. Ein Ausdruck von: ‹Ich mag dich mit allem drum und dran›», sagt Isabelle Kölbl. «Die erotische Ebene öffnet Tore, die sich sonst nie öffnen würden.» Deshalb messe sie ihrem Angebot auch einen beachtlichen psychologischen Aspekt zu.
Gespür für Menschen
«Ich hatte schon immer ein besonderes Gespür für die Menschen», sagt sie. Bei Handicapierten sei die Verbindung besonders stark. Denn seit einem Motorradunfall leidet Isabelle Kölbl dauerhaft unter Schmerzen im Bauch, sie ist eine sogenannte Schmerzpatientin. Einmal, nach gutem Sex, erzählt Kölbl, habe sie mit ihrem Partner über diese Gabe gesprochen. Man müsse sie ausleben, sagten sich die beiden. Das sei der Auslöser gewesen, diese Ausbildung zu machen.
«Manchmal denke ich: Ach Isabelle, warum kannst du es nicht einfach mal gut sein lassen?» Mit 55 Jahren fühle sie sich jetzt aber fähig, für ihre Überzeugung einzustehen.
«Jeder Mensch hat eine Vorstellung vom Paradies»
Daniel sagt, er habe zu jeder Bahnschwelle zwischen Bern und der Ostschweiz eine innige Beziehung. Er braucht diesen Weg, diese Distanz, die seine beiden Welten trennt. Nach dem ersten Treffen mit Isabelle vor 6 Jahren weinte er, als der Zug den Bahnhof verliess. Die ganze Heimfahrt über flossen die Tränen, Daniel konnte sie nicht zurückhalten. Er fragte sich: Liebe ich diese Frau? Eine klare Antwort fand Daniel nicht. Er wusste nur, dass er Gefühle hatte für sie.
Unterdessen habe er die Gefühle im Griff, sagt Daniel. «Jeder Mensch hat eine Vorstellung vom Paradies. Für die meisten ist sie unerreichbar, für mich geht sie während der Ferien und der Besuche in Erfüllung.»
Daniel wünscht sich eine Beziehung
Daniel hatte schon einmal eine Partnerin. Auch sie hatte ein Handicap. Die Beziehung zerbrach aber, erzählt Daniel. Mit ein Grund sei gewesen, dass die Eltern der Frau sagten, sie wollten keinen behinderten Schwiegersohn. Das hat Daniel hart getroffen.
Für die Zukunft wünscht er sich eine Beziehung. Doch heute ist er noch froh, hat er niemanden an seiner Seite. Auf die Frage nach dem Grund, antwortet er mit einer Gegenfrage: «Essen Sie jeden Tag Delikatessen?»
*Daniel möchte nicht mit Nachnamen genannt werden. (Berner Zeitung)
Das sagt die Sexologin
Die Diskussion um die Sexualität von Menschen mit einer Behinderung sei noch am Anfang, sagt Esther Elisabeth Schütz, die das Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapie Uster leitet. Was Isabelle Kölbl anbietet, entspricht für Schütz dem Leitbild, das die Fachstelle für Behinderung und Sexualität (Fabs) entworfen hat. «Menschen und ihre Sexualität dürfen nicht über ihre Behinderung definiert werden», schrieben die Fachleute dort. Mittel- bis langfristig sollten «professionelle Prostituierte solche Dienstleistungen erbringen».
«Möglich, dass Isabelle Kölbl die Erste ist, die das öffentlich deklariert und so anbietet», sagt Esther Elisabeth Schütz. Sie unterstützt die Auffassung der Fabs und denkt dabei vor allem an Menschen mit einem geistigen Handicap. «Ein 15-Jähriger mit geistiger Behinderung interessiert sich genauso für echte Jugendhefte und nackte Frauen», sagt Esther Elisabeth Schütz.
Die Selbstbefriedigung und die Fähigkeit, eine Frau zu verführen, würden aber noch zu wenig gefördert.
«Entsprechend gross ist die Herausforderung, dass sich der Mann nicht in die Sexualbegleiterin verliebt», sagt Schütz. Es brauche Anbieter, die mit Nähe und Distanz umgehen könnten. «Eine Prostituierte mit langjähriger Erfahrung bietet sich körperlich an, niemals aber emotional. Das ist zentral, damit möglichst wenig Träume einer Liebesbeziehung aufkommen.» Wichtig sei zum Beispiel auch, dass der Mann die Prostituierte zahle, und zwar vor der Dienstleistung.
Dass es zwischen der Sexarbeiterin und dem Mann zu langen Gesprächen kommt, findet Esther Elisabeth Schütz nicht optimal. «Es ist wichtig, dass der Besuch im Vorfeld und danach begleitet wird. Und das ist die Aufgabe von Fachleuten, nicht von Prostituierten.»
Die neue Internetseite
Auf der Seite Sexcare.ch können Prostituierte inserieren. Sie geben an, auf welche Behinderungen sie eingehen können, zum Beispiel ob ihr Studio rollstuhlgängig ist oder ob sie Männer mit Demenz bedienen.
Vor dem Inserieren ist eine Schulung Pflicht. Im eintägigen Workshop lernen die Frauen, wie sie auf Männer mit einem Handicap eingehen können. Durch die Schulung, witzelt Isabelle Kölbl, würden die Frauen «Isa-zertifiziert», also die Qualität garantiert. Der Workshop kostet, danach zahlen die Frauen rund 400 Franken pro Monat für ihr Inserat – das ist der übliche Preis in der Branche. Es sei schwierig, gute Frauen zu finden, sagt Kölbl. Aktuell haben acht Prostituierte ein Profil.
Die Seite bedeutet für Isabelle ein Risiko. Nicht nur, weil sie und zwei Projektpartner je 9000 Franken investieren. Isabelle Kölbl gibt auch ihre Exklusivität auf. Langfristig hofft sie aber, dass Sexcare Einnahmen generiert und ihre Altersversicherung wird.
Berner Zeitung
Erstellt: 19.02.2014, 16:10 Uhr