- Eidgenossen setzen auf hohen Qualitätsanspruch beim Koks
- Reinheitsgrad bei 90 Prozent angelangt
- Kokainkonsum in Zürich seit 2015 verdoppelt
- Die Linke will Kokain wie Schokolade am Kiosk verkaufen - SVP setzt auf Verbot
Willkommen im Koksparadies
In einer Studie der europäischen Drogenbehörde belegt Zürich einen unrühmlichen Spitzenplatz: Nirgends wird am Wochenende mehr Kokain konsumiert als an der Limmat.
Wenn es um Kokain geht, belegt Zürich einen unrühmlichen Spitzenplatz: Nirgends in Europa wird am Wochenende mehr gekokst. Der Stoff wird ganz offen in der Innenstadt verkauft.
Wer Freitagabends über die Langstraße streift, wird früher oder später darauf angesprochen – ob er will oder nicht. „Braucht du was?“, fragt der Dealer und listet sein Sortiment auf: Haschisch, Ecstasy – und natürlich Kokain. Die angesagten Bars und Clubs im Zürcher Kreis 4 leben vom verruchten Image des Viertels. Drogen sind hier leicht zu bekommen.
Wenn es um Kokain geht, belegt Zürich einen unrühmlichen Spitzenplatz: Nirgends in Europa wird am Wochenendemehr gekokst, zeigt eine aktuelle Studie der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD). Dazu haben Forscher das Abwasser in 56 Städten auf Drogen und deren Abbauprodukte untersucht.
Demnach werden in Zürich täglich mehr als 1.100 Milligramm Kokain pro 1.000 Personen konsumiert. Damit hat sich der Kokainkonsum an der Limmat seit 2015 etwa verdoppelt. Ausgerechnet Zürich, das mit seiner edlen Bahnhofstraße, dem pittoresken Seeufer und der prächtigen Aussicht auf die Alpen jährlich hunderttausende Touristen anzieht, ist damit eine europäische Kokainhochburg.
Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch wirkt, passt durchaus zusammen: Kokain gilt als Partydroge, die vor allem am Wochenende konsumiert wird. Das weiße Pulver kostet deutlich mehr als andere illegale Substanzen – und trifft damit in der wohlhabenden Stadt auf eine kaufkräftige Klientel.
Zudem erfolgt der Konsum fast unsichtbar. Der Schnee rieselt leise. Was nicht bedeutet, dass er keine Probleme verursachen würde. Die Schweiz ringt um den richtigen Umgang mit dem Kokainproblem: Soll der Konsum legalisiert werden – oder macht das die Sache nur noch schlimmer?
Die Zürcher „Wochenzeitung“ (WoZ) hat sichauf die Spur des Stoffs begeben. Ihre Reporter sprachen mit Dealern, Konsumenten, Therapeuten und Strafverfolgern – und trafen mit der Story einen Nerv. Der „Kokain-Report“ war an den Kiosken schnell ausverkauft.
Die Reporter zeigen, wie sich der Kokainkonsum durch alle gesellschaftlichen Schichten der Stadt zieht, von der Barfrau bis zum Manager. Sie treffen etwa eine Wirtschaftsprüferin, die kokst, um ihren Siebzig-Stunden-Job und ihr Partyleben unter einen Hut zu bringen. Und begleiten einen Mann, der auf der Langstraße nur „Dr. Satan“ genannt wird, beim Drogenkauf.
„In dem Moment, wo ich Kokain wirklich will, mache ich fast alles, um es zu kriegen“, sagt der Treuhänder, der enorme Schulden angehäuft hat. Ein typisches Schicksal: Viele Kokainabhängige arbeiten ganz normal in ihrem Job, bis sie irgendwann in Geldnot geraten und sich verschulden.
Für Lieferanten und Dealer ist die Sucht ein einträgliches Geschäft. Zwar geht die Zürcher Polizei gegen die Dealer vor. Doch die Beamten können nicht verhindern, dass Jahr für Jahr mehr Stoff auf die Straßen der Stadt gelangt. Viele Experten plädieren deshalb dafür, zumindest den Konsum von Kokain nicht mehr unter Strafe zu stellen. Die Hoffnung: Der Drogenkonsum lasse sich so besser kontrollieren, die Süchtigen beraten.
Dafür gibt es in der Stadt einen Präzedenzfall: Anfang der 1990er tummelten sich tausende Heroinjunkies aus ganz Europa auf dem „Platzspitz“. Der Name steht für ein Zürcher Trauma: Allein im Jahr 1992 starben fast 420 Menschen an einer Heroinüberdosis.
Damals reagierte die Politik mit einer radikalen Kehrtwende in der Drogenpolitik. Neben Prävention, Repression und Therapie zielt diese seitdem auch auf Schadenminderung ab. Statt gestrecktem, illegal erworbenem Heroin erhalten Drogensüchtige den Ersatzstoff Methadon, den sie sich in Fixerstuben verabreichen können.
Angesichts des Kokainbooms plädieren Suchtexperten nun für einen Neuanfang im Umgang mit Kokain. Im Oktober machte sich die Zürcher Gesundheitsvorsteherin Claudia Nielsen für eine kontrollierte Abgabe stark. „Wir brauchen einen neuen Umgang mit harten Drogen wie Kokain“, sagte sie der „Neuen Zürcher Zeitung“.
Der Vorstoß verpuffte, Nielsen trat wegen einer Affäre bei der jüngsten Wahl nicht mehr an. Die Linke hat in Zürich zwar eine absolute Mehrheit, doch sie steht auf verlorenem Posten: Für eine Legalisierung bräuchte sie den Rückhalt der Bundespolitik, und dort regt sich Widerstand gegen eine weitere Liberalisierung der Drogenpolitik.
„Eine Legalisierung wäre dramatisch“, warnte etwa Andrea Geissbühler, Nationalrätin bei der Schweizerischen Volkspartei. Wenn Drogen frei verfügbar wären, käme man viel eher in Versuchung. „Es ist wie bei der Schokolade am Kiosk. Man kauft sie eher, wenn sie offen in der Auslage liegt“.
Auf der Langstraße liegt das weiße Pulver zwar nicht im Kiosk aus, aber es ist trotzdem einfach zu bekommen. „Im Moment ist in Zürich so viel hochprozentiger Stoff auf dem Markt, man kann es sich nicht leisten, das Zeug zu strecken“, zitiert die „Woz“ einen Drogenhändler. Der Reinheitsgrad liege häufig bei neunzig Prozent.
Dass Zürich beim Pro-Kopf-Konsum einen Spitzenplatz belegt, könnte auch am Qualitätsanspruch der Eidgenossen liegen. „Wenn sich der Schweizer einen neuen Fernseher kauft, kauft er in der Regel kein Billigprodukt“, sagt der Dealer. „Er gibt lieber mehr Geld aus und kriegt dafür Qualität.“ So sei das auch beim Koks.
Quelle https://www.handelsblatt.com/p…-qaKbjddgcRk46MGOR31b-ap2